Alte Naturreligionen
© John Freemont Stiller 2006 PCMTH
Der Schamanismus gilt als Ursprung von Religion und Medizin. Schamanen sind zentrale religiöse Funktionsträger ihrer Kulturen. Sie vermitteln in magischer Naturverbundenheit über veränderte Bewusstseinszustände wie Traum, Trance und Ekstase zwischen den Kräften der sichtbaren und unsichtbaren Welt und regulieren so die Beziehungen zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen, Steinen der Erde und der Geisterwelt.
Der Begriff Schamane - in der heutigen kulturübergreifenden (emischen) Bedeutung des Terminus - meint einen in selbstinduzierten besonderen Bewusstseinszuständen (Ausseralltagsbewusstsein) wirkenden Helfer der Menschen seiner Gruppe in vielen Nöten ihres Lebens. Der Schamane ist Mittler zwischen der gruppengemeinsamen Alltagsrealität, der Diesseitswelt, und der transintelligiblen Anderwelt.
Auf der Kulturstufe, welche den Schamanen als notwendige Institution hervorbringt, ist alles Diesseitig-Gestalthafte der Alltagsrealität "unterlegt" von transintelligiblen Kräften, Geister genannt. Auch das Gewöhnlich-Alltägliche ist dem Menschen dieser Kosmologie Hierophanie.Der Schamane ist der (männliche oder weibliche) Spezialist der Beziehung zwischen der Alltagsrealität und der transzendenten Welt, noch vor der Spaltung in profan und heilig-numinos.Der Schamane ist Träger und Übermittler der Anthropologie, Kosmologie, Religion seiner Sozietät.
Zur Aktualisierung seiner Begabung wird er durch besondere Erfahrungen (Vorzeichen, Träume, Visionen, Krisen gesundheitlicher Art) spontan oder nach eigener Suche gerufen. Nach der Initiation erfolgt die oft jahrelange Lehre.
Je nach Bedarf seiner Mitmenschen stellt der Schamane seine Kräfte als vermittelnder Helfer in der Ekstase zur Verfügung. In der schamanischen Séance geschieht, wie Findeisen (1) achtungsvoll sagt, eine Setzung, ein In-die-Welt-Setzen von einordnenden, wiederherstellenden Sinnverbindungen zwischen der Menschenwelt und dem außermenschlichen, übernatürlichen Geisterbereich.
In diesem Sinne ist der Schamane eine herausragende religiöse Wirkgestalt. Er ist wichtigster religiöser Funktionsträger in der archaischen, präsakularisierten Kulturwelt der Jäger- und Sammlervölker und der nomadisierenden Viehzüchter, Gesellschaften vor der Entstehung von Hochreligionen mit ihren priesterlichen Vermittlern, Propheten und Reformatoren.
Das tungusische Wort Schaman scheint für die Tungusen ein Fremdwort zu sein. Die Herkunft ist unbestimmt. Vielleicht stammt das Wort aus dem Sanskrit Sramana: der religiöse Praktiker der Askese. Von dort könnte das Wort nach Asien gekommen sein, in das Königreich Shahn als Samana, nach China als shaman, nach Japan als shamon.
Der Schamane findet sich in der klassischen Grundgestalt bei vielen Völkern des eurasischen Raumes, ähnliche Funktionsträger gibt es aber auch in Nord- und Südamerika, in Ozeanien, Australien, Afrika. Die lokalen Modifikationen sind zahlreich. Abkömmlinge des Schamanentums, vielfach mit christlicher Überlagerung, sind auch in den säkularisierten Kulturen Europas, Asiens, beider Amerikas aufzuspüren.
In vielen dieser Kulturen bestehen schamanistische Traditionen weiter: bei den nicht-akademischen Heilern (Medizinmann, Curandero), bei den Priestern, Wahrsagern, Traumkundigen, Orakelkündern, Tempelheilern, Wunderheilern (Siddha in Indien) sowie im Zauberer und in der Hexe. Schamanistische Elemente sind auch noch Bestandteil von Ritualen einiger Hochreligionen, z. B. im Exorzismus, in der Beschwörung, in der Taufe, in den Bräuchen zur Hochzeit, bei Krankheit und Tod, im Segnen von Vieh und Ernte. Die Lebens- und Sterbensbegleitung, die Sorge für das Nachtod- und Wiedergeburtsschicksal sind Beispiele dafür im Vajrayana. Tod und Auferstehung Jesu, Transsubstantiation von Brot und Wein in seinen Leib, sein Blut in der Messe sowie eine Reihe von Funktionen des Priesters bei der Taufe, bei Krankheiten, beim Sterben, in Ernte- und Haussegen sind schamanische Elemente im Christentum. Die Kultivierung der Induktion besonderer Bewusstseinszustände durch Gesänge, Tanz, Rhythmik findet sich z. B. bei den Derwischen der islamischen Mystik.
(1) Die Schamanen : Jagdhelfer und Ratgeber, Seelenfahrer, Künder und Heiler / Hans Findeisen ; Heino Gehrts, ISBN 3-424-00747-1